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Sicherheit neu denken

Redebeitrag beim Antikriegstag
vom Jan Birk

Liebe Friedensfreunde!

Ich wurde eingeladen, eine Rede über Sicherheit neu denken zu halten.

Mein Name ist Jan Birk, ich bin 65 Jahre alt. Ich habe Landwirtschaft studiert, bin seit 45 Jahren aktives Mitglied der Gewerkschaft (IG BAU) und seit 39 Jahren in der Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung aktiv.

Zur Sache: Am 24. Februar hat Vladimir Putin den Überfall auf die Ukraine befohlen. Seine Erfahrungen in Tschetschenien, wo er Grosny ungestraft dem Erdboden gleich gemacht hat, mit Georgien, wo er Teile des Landes mit seinen Truppen besetzt hält, in Syrien, wo er ohne eigene Verluste zivile und militärische Ziele unter anderem mit geächteten Fassbomben bombardieren lässt, und mit der Krim, die er ohne nennenswerte Reaktion des Westens heim in sein Reich geholt hat, haben ihn zu der Annahme verleitet, er könne in der Ukraine einen schnellen und ungefährdeten Sieg erringen. Das hat nicht geklappt und klappt auch weiterhin nicht, auch nicht, wenn die russische Armee gegen alles verstößt, was die Weltgemeinschaft in über 100 Jahren als Kriegsvölkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung vereinbart hat. Als Pazifisten kann es für uns keine Rechtfertigung für diese Untaten geben, auch nicht für die Dummheiten und Fehler, die die ukrainische Regierung zweifellos begangen hat. Für mich persönlich ist es ein wiederkehrender Schock, dass das Land Tolstojs und Turgenjews, Kropotkins und Tschaikowskis Vergewaltigungen als Kriegswaffe einsetzt.

Das ist der Schock im Schock, in der Erschütterung darüber, dass 77 Jahre Frieden am 24. Februar ihr Ende gefunden haben. 77 Jahre? Nein, keineswegs. Der Zerfall Jugoslawiens und die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan waren für die rotgrüne Koalition unter Schröder und Fischer Anlass Serbien zu bombardieren, ein Land, das keine Bedrohung für Deutschland war, und das ohne Mandat der Vereinten Nationen. Und so wie ich für Russland die Linie Tschetschenien – Georgien - Syrien – Ukraine gezogen habe, so können wir für Deutschland die Linie Serbien – Kambodscha – Afghanistan – Burkina Faso und Mali ziehen. Aber schon als ich 1986 im Niger gearbeitet habe, bin ich dort der Bundeswehr begegnet.

Wir dürfen also durchaus misstrauisch sein, wenn nun Krokodilstränen über den bösen Putin vergossen werden, schafft er doch eine neue Legitimation für die, die gerne das Gleiche tun wie er – NATÜRLICH ohne Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht. Und Putin lässt die Aktienkurse der Rüstungsindustrie neue Höchststände erklimmen. Und gibt einem entscheidungsschwachen Kanzler der SPD die Möglichkeit, einen 100 Milliarden Sonderfonds für Rüstungsgüter als Beweis seiner Entschlusskraft zu verkaufen und nicht als den kompletten Irrsinn, der er ist.

Nun soll ich was über Sicherheit neu denken sagen.

Sicherheit neu denken ist ein Konzept, das zwei wesentliche Dinge miteinander verbindet:

  • zum einen beschreibt es einen Fahrplan zur Entwaffnung der Bundeswehr und der NATO, der einzelne Schritte konkret beschreibt,
  • zum anderen enthält es einen Zeitplan, bis wann die einzelnen Schritte oder Zwischenziele erreicht sein sollen.

Und Sicherheit neu denken spricht uns alle an, es ist im wörtlichsten Sinne eine Dachorganisation, vergleichbar mit der Rolle des DGB in der Gewerkschaftsbewegung. Erstellt wurde es unter dem Dach der Badischen ev. Landeskirche, die sich als Kirche des Gerechten Friedens versteht oder mindestens verstanden hat.

Im vollen Wortlaut heißt das Papier Sicherheit neu denken – Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – ein Szenario bis zum Jahr 2040. Ihr kriegt es direkt (im Internet bei der ekiba) oder über den Buchhandel für € 10,--; es gibt auch eine 15-seitige Kurzfassung im Internet.

Tatsächlich enthält es drei Szenarien, eines „So hätten wir's gerne“, eines „Alles bleibt, wie es ist“ und eines „Es geht den Bach runter“. Ich gehe hier nur auf das Wunschszenario ein, wobei ich Euch um etwas Geduld bitte, denn der Plan setzt auf den, von dem wir uns bislang nichts erhofft haben: den Staat. Das kann und will ich erklären:

Der Plan also:

  • Bis 2025 sollen nach und nach 5.000 Organisationen zum Mitmachen gewonnen werden, die Öffentlichkeitsarbeit machen und die Politik davon überzeugen, eine Studie zu den Möglichkeiten und Grenzen einer nachhaltigen zivilen Sicherheitspolitik in Auftrag zu geben.Bis 2025
    • gibt die Politik die Unsitte der Rüstungsexport-Bürgschaften auf,
    • führt sie das Recht auf Kriegssteuerverweigerung aus Gewissensgründen ein und
    • beschließt sie die Verbannung aller Atomwaffen von deutschem Boden.

    Ein schöner Satz: die Kirchen in Deutschland setzen sich in ihren europäischen Netzwerken für eine Akzeptanz der beabsichtigten Demilitarisierung Europäischer Sicherheitspolitik durch deutsche Nachhaltigkeitspolitik in den restlichen EU-Staaten ein.

    Und was bei uns passiert, passiert auch in Schweden, den Niederlanden und Österreich.

  • 2025 beschließt der Bundestag mit breiter Mehrheit den Umstieg Deutschlands von einer militärischen zu einer nachhaltigen zivilen Sicherheitspolitik auf der Basis der fünf Säulen:

(1) Gerechte Außenbeziehungen (Gestaltung von ökologisch, sozial und wirtschaftlich gerechter Außenbeziehungen),

(2) Nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten (Förderung wirtschaftlicher Perspektiven und staatlicher Sicherheit östlich und südlich der EU),

(3) Teilhabe an der Internationalen Sicherheitsarchitektur (Deutschland als Mitglied der EU, der OSZE, der NATO und der UNO),

(4) Widerstandsfähige Demokratie sowie

(5) Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie.

  • Nachdem wir bis 2026 eine klare Mehrheit der Bevölkerung überzeugt haben, löst sich Sicherheit neu denken auf und gründet sich neu als Organisation zur Propagierung gewaltfreier Verteidigung. Es folgen Verhandlungen zwischen der EU und Russland zur Bildung einer Wirtschaftszone und für einen neuen Aufschlag für Desertec, den nicht ganz neuen Plan zur Gewinnung von Solarenergie rund um die Sahara.
  • Es folgen weitere Verhandlungen mit Russland zur Bildung einer Sicherheitspartnerschaft bis 2030, der Beschluss zur vollständigen Abrüstung der Bundeswehr im Jahr 2035, die Zustimmung der NATO, deren Mitglied die Bundeswehr bleibt, im Jahr 2037 und die vollständige Abrüstung der Bundeswehr im Jahr 2040, alles immer flankiert durch Bildungsarbeit und durch kontinuierliches Engagement der Verteidigungskräfte im Rahmen eines internationalen Technischen Hilfswerks.

Offen gesagt hat mich der Ansatz von Sicherheit neu denken schwer irritiert: wir sollen also die Zivilgesellschaft überzeugen, damit die Zivilgesellschaft die Politiker überzeugt, damit die Politiker beschließen aus der Rüstung auszusteigen und die NATO überzeugen, dass es okay ist, wenn ein großes Mitglied auf Rüstung verzichtet, aber trotzdem Mitglied der NATO bleibt.

Das ist eine Zumutung.

Wir müssen uns allerdings die Frage gefallen lassen: wie soll es denn sonst gehen? Ich will das mal am Beispiel der Aktion „Bundesrepublik ohne Armee“ des Netzwerks Friedenskooperative in Bonn illustrieren: Wir haben die Abrüstung propagiert, wir wollten sie über ein Netzwerk erreichen und unsere Adressaten waren die BürgerInnen und die PolitikerInnen. Ich und wohl viele andere von uns haben erwartet, dass die da oben endlich einsehen, dass es in erster Linie Unrecht ist, was sie da tun, und das es nichts bringt, und dass sie deshalb die Finger vom Militär lassen. Ich denke heute, dass diese Erwartung sicher nicht realistischer war als es die von Sicherheit neu denken heute ist.

Friedensarbeit bedeutet Zumutung: Zumutung für uns, dass wir uns mit Leuten an einen Tisch setzen müssen, die dem menschlichen Leben einen andern – in unserem Verständnis geringeren – Wert beimessen als wir. Dass wir mit ihnen reden, und dass wir die Argumente finden, die für sie schwerer wiegen, wie wirtschaftlicher Wohlstand, Freiheiten, die durch Rüstung und Krieg bedroht sind, und was es sonst noch geben mag. Und für die anderen sind wir auch eine Zumutung: die realitätsfernen Pazifisten, die die Worte der Bibel und des Grundgesetzes auf die Goldwaage legen und ohne Waffen auskommen wollen; die nicht bereit sind, sich richtig zu wehren. So müssen wir aufeinander zugehen: Wir müssen einsehen, dass es nicht reicht, die richtige Meinung zu vertreten, sondern dass es in unserer Welt um Mehrheiten geht. Und die anderen müssen einsehen, dass es nicht reicht, Mehrheiten zusammen zu kehren, wenn deren Gemeinsamkeit sich im Willen zur Macht erschöpft, dass auch Mehrheiten dauerhaft nur zu erreichen sind, wenn diese vernünftige Ziele verfolgen, die der Mehrheit eine Zukunft sichern und nicht nur der Rüstungsindustrie und ihren Shareholdern.

Bevor ich nun zum Schluss komme, möchte ich Euch noch etwas erzählen:

Mitte Juli sind 60 MitstreiterInnen von Sicherheit neu denken in Fulda zusammen gekommen, um sich zu beraten. Ein Ergebnis war, dass wir als Friedensbewegung nicht tatenlos zusehen wollen, wenn sich in der Ukraine ein Angreifer – Russland – und ein nur auf militärische Mittel setzender Angegriffener – die Ukraine – in einander verbeißen. Ich zitiere hier immer gerne den ehemaligen Bundeswehr-General und Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, Herrn Kujat, der schon früh darauf hinwies, dass ein Frieden immer nur das Ergebnis von Verhandlungen sein kann. Und wer verhandeln will, muss miteinander reden. Und wer miteinander reden will, darf nicht gleichzeitig das Leben seines Gesprächspartners in Gefahr bringen. Wir haben also beschlossen, dass wir in die Ukraine wollen und dort den Gedanken des gewaltlosen Widerstands, der gewaltfreien Aktion zu verbreiten. Als Türöffner soll uns die Städtepartnerschaft zwischen Odessa und Regensburg sowie 33 weiteren Städten dienen. In drei Wochen, am Tag des Friedens der Vereinten Nationen, werde ich also mit mindestens zwei MitstreiterInnen in Odessa sein. Es wird eine Reise der Solidarität, von denen es schon viele gegeben hat, nur bringen wir keine Waffen und keine humanitären Güter, sondern Gedanken, wie man Konflikte auch lösen kann, ohne dass jemand dran glauben muss.

Wünscht mir Glück, dann haben wir alle Glück! Vielen Dank.

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