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Wie der Zionismus zum Überlebens- und Verdrängungskolonialismus wurde

Aus: »Blätter« 5/2022, S. 103-111

Ob in den sozialen Medien, auf „Querdenker“-Demonstrationen oder auf dem Schulhof: Antisemitische Stereotype und Beschimpfungen sind allgegenwärtig, und sie nehmen zu. Um diesen „alltäglichen“ Antisemitismus zu erkennen, braucht man jedoch keine Spezialkenntnisse. Lehrerinnen und Lehrer etwa sollten wissen, dass „Du Jude“ als Schimpfwort tabu ist oder dass die Rede von Juden als „Christusmördern“, „Brunnenvergiftern“ oder „Drahtziehern der Weltgeschichte“ genauso abwegigen Phantasien entspringt wie jene über die Macht- und Geldgier, die dieser Gruppe seit Jahrhunderten angedichtet werden. Hier sind keine größeren intellektuellen Anstrengungen erforderlich, sondern ist vor allem Anstand gefragt.

Beim Thema Nahostkonflikt ist die Sache komplizierter. Gerade hier gibt es – wie bei fast allen nationalen oder ethnischen Großgruppenkonflikten – ein breites Spektrum von Deutungen. Die unmittelbar Beteiligten oder ihre jeweiligen Parteigänger neigen dabei häufig sogar dazu, die eigene Seite als vollkommen unschuldig darzustellen und alle Verantwortung der anderen Konfliktpartei zuzuschieben.[1] Zwar finden sich dann auch hier eindeutige und damit leicht zu durchschauende antisemitische Feindbilder, zum Beispiel wenn Israel mit „Kindermördern“ gleichgesetzt oder gar behauptet wird, Israel gehe mit den Palästinensern auch nicht anders um als die Nazis mit den Juden.

Andere Themen hingegen werden selbst in der israelischen Fachdebatte überaus kontrovers diskutiert – etwa der Zusammenhang zwischen Zionismus und Kolonialismus, die Bezeichnung „Apartheid“ für die Zustände in den von Israel besetzten Gebieten oder die Legitimität der Boykottbewegung BDS.[2] In diesen Debatten ist die Diagnose „Antisemitismus“ weitaus schwieriger, weil sie unvermeidlich in das Ringen um Diskurshegemonie in einem Territorial- und Herrschaftskonflikt und die damit verbundenen Kämpfe um Deutungshoheit eingreift. Umso wichtiger erscheint es – auch mit Blick auf die Definition eines israelbezogenen Antisemitismus –, die schon als brisante Beispiele genannten drei Sachfragen so zu beantworten, dass sie aus der politischen Polemik herausgenommen werden können.

Wie Antisemitismus definieren?

Wie komplex allein die Frage der Definition von Antisemitismus gegen Israel ist, zeigt die neue Studie von Klaus Holz und Thomas Haury, die sogar die weit verbreiteten Drei-D-Kriterien (Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelstandards) als unzulänglich ablehnen; diese drei Ds gebe es in zahlreichen anderen Konflikten auch, sie seien deshalb nicht spezifisch antisemitisch.[3] Das in Nahostfragen konservative Lager hierzulande – wahrscheinlich die Mehrheit der politischen Elite – hält es mit der Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ von 2016. Die IHRA versteht unter Antisemitismus „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

Kritik an dieser Definition, die wieder anderen Expertinnen und Experten als zu schwammig und dehnbar gilt,[4] bezeichnen israelische Nationalisten schon mal als Bagatellisierung von Antisemitismus. Dann wäre aber auch Kenneth Stern, einer der Mitbegründer dieser Definition, ein solcher Bagatellisierer: Stern hatte sich im November 2017 vor dem Rechtsausschuss des US-Repräsentantenhauses kritisch zu dem ursprünglich von ihm selbst mitformulierten Text geäußert, weil er die Diskussionen zwischen proisraelischen und propalästinensischen Gruppen vergifte.[5]

Eine neue ausführliche Definition von Ende März 2021, die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“, soll nach Angaben ihrer Autorinnen und Autoren die IHRA-Definition ergänzen und präzisieren. Sie ist inzwischen von über zweihundert jüdischen Fachleuten unterzeichnet worden und geht davon aus, dass weder die Verbindung zwischen Zionismus und Kolonialismus noch die Verwendung des Begriffs „Apartheid“ für die Zustände im Westjordanland oder die BDS-Bewegung von vornherein als antisemitisch einzustufen seien.

Was das Verhältnis zwischen Zionismus und Kolonialismus angeht, so besteht immerhin weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei den Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Einwanderern bzw. Israel mit den Palästinensern um einen territorialen Herrschaftskonflikt handelt. Im Zentrum geht es dabei um die Streitfrage, welcher der beiden Großgruppen, die jeweils den Status einer Nation für sich beanspruchen, das Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina als Ganzes oder in Teilen materiell und politisch zusteht.

Der Nahostkonflikt als territorialer Herrschaftskonflikt

Der Brisanz der konkurrierenden Ansprüche waren sich viele Beteiligte und Beobachter von Anfang an bewusst. Als die Wiener Rabbis nach dem Ersten Zionistischen Kongress im Jahr 1897 in Basel zwei Vertreter auf eine Mission nach Palästina schickten, um dort die Chancen für einen jüdischen Staat zu sondieren, kabelten diese nach Wien: „Die Braut ist wunderschön, aber sie ist mit einem anderen Mann verheiratet.“[6] Und zehn Jahre nach dem Erscheinen von Theodor Herzls Buch „Der Judenstaat“ (1896) schrieb der arabische Bürgermeister von Jerusalem in einem Brief an seinen Freund Zadok Kahn, den Oberrabbiner von Frankreich, dass wohl niemand das Recht der Juden in Palästina bestreiten könne. Gott wisse, dass es historisch ihr Land sei. Dennoch schließe die bittere Realität eine Wiederansiedlung der Juden aus, da das Land bereits von Arabern besiedelt sei. „Im Namen Gottes“, flehte er, „lasst Palästina in Frieden.“[7] Von Israels späterem erstem Ministerpräsidenten David Ben-Gurion ist eine Aussage aus dem Jahr 1919 überliefert, wonach es keine Lösung für das Problem des Interessenkonflikts zwischen Juden und Arabern gebe. Er kenne keinen Araber, der damit einverstanden wäre, dass Palästina den Juden gehöre, so Ben-Gurion: „Wir wollen das Land für uns. Die Araber wollen das Land für sich.“[8] In den 1930er Jahren gab Ben-Gurion angesichts des arabischen Aufstands zu bedenken, dass er sich als Araber ebenfalls gegen die Einwanderung erheben würde. Die Araber sähen genau das Gegenteil von dem, was die Zionisten sähen. Und es sei egal, ob sie recht hätten oder nicht. Entscheidend sei, dass sie fürchteten, nicht nur ihr Land zu verlieren, sondern ihre Heimat, die andere in eine Heimat für das jüdische Volk umwandeln wollten.[9] In der Tat erwog die jüdische Führung im Mandatsgebiet zu dieser Zeit bereits einen „Transfer“ größerer Teile der arabischen Bevölkerung. Der sollte friedlich und durch Anreize vonstatten gehen, notfalls aber auch durch Anwendung von Zwang und Gewalt.[10]

Demgegenüber sprachen sich arabische Diplomaten von Anfang an einhellig für die ungeteilte arabische Souveränität über Palästina aus sowie für eine Beendigung oder zumindest eine Begrenzung der jüdischen Einwanderung und für eine Beendigung der Landkäufe.

Darüber hinaus signalisierten sie verschiedentlich Zustimmung zur Bildung eines gemeinsamen Staates, dem auch ein hoher Anteil jüdischer Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Bürgerrechten angehören könnte – im Gespräch waren bis zu 40 Prozent. Im Oktober 1944 drückten eine Reihe arabischer Staatsoberhäupter im Alexandria-Protokoll offiziell ihr Bedauern für das große Leid aus, das europäische Diktaturen Menschen jüdischen Glaubens zugefügt hatten. Zugleich verwahrten sie sich jedoch dagegen, das Problem der europäischen Juden „durch ein anderes Unrecht“ zu lösen, das die Araber Palästinas zu erleiden hätten.[11]

Beim Streit zwischen Juden und Arabern – und auch darüber besteht weitgehend Einigkeit – handelt es sich also nicht um einen „typischen“ ethnischen Konflikt. Die jüdische Seite kann zwar auf eine historische Vorgeschichte in der Region sowie auf durchgängige kulturelle Bezugnahmen verweisen, aber sie war dort über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren zahlenmäßig oder gar politisch keine relevante Gruppe mehr gewesen. Das heißt, der Zionismus als jüdische Nationalbewegung musste im 20. Jahrhundert in dem „Much Too Promised Land“[12] buchstäblich erst wieder Fuß fassen – und zwar durch Besiedlung. Nun können Siedlungsprozesse von außen einvernehmlich mit Einheimischen verlaufen – beispielsweise auf Einladung durch deren Autoritäten im Sinne der Bestellung von ungenutztem Boden und Fruchtbarmachung von Land. Und es gab zionistische Strömungen, die ihre Siedlungstätigkeit so verstanden. Jene Strömungen aber, die auf einen eigenen Staat und damit längerfristig auf politische Dominanz durch territorial gesicherte Mehrheitsbildung setzten, waren von Anfang an stärker und haben sich schließlich durchgesetzt – nicht zuletzt schon wegen des deutlich ansteigenden Zustroms nach Palästina in den frühen dreißiger Jahren, eine Folge der zunehmenden Diskriminierung der Juden vor allem in Deutschland und Polen sowie einer drastisch gesunkenen Aufnahmebereitschaft aller anderen Länder.

Koloniale Staatsbildung ohne koloniales Mutterland

Dass es die Option eines jüdischen Staatsbildungsprozesses durch Kolonisierung ohne eigenes koloniales Mutterland überhaupt gab, ist freilich untrennbar mit den internationalen Rahmenbedingungen schon in der Frühzeit des zionistischen Vorhabens verbunden: Ohne den Kolonialismus und Imperialismus der damaligen Großmächte hätte es keine Grundlegung für einen jüdisch geprägten Staat in Palästina gegeben. So übertrug der von ihnen dominierte Völkerbund im Juli 1922 das Mandat für Palästina im Sinne der Balfour-Erklärung an Großbritannien, womit er die jüdische Seite politisch wie rechtlich erheblich begünstigte.[13]

Eine Aussage Woodrow Wilsons, des prozionistischen US-Präsidenten während des Ersten Weltkrieges, verdeutlicht, wie sehr Vertreter der sogenannten fortgeschrittenen Länder damals noch in den Kategorien von Vorherrschaft über die vermeintlich weniger zivilisierten Völker dachten. Anlässlich einer Zusammenkunft mit führenden amerikanischen Zionisten im Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen, bei denen es auch um das Erbe des Osmanischen Reiches ging, teilte Wilson am 2. März 1919 dem Vizepräsidenten der Zionist Organization of America, Stephen Wise, mit: „Don’t worry, Dr. Wise, Palestine is yours.“[14]

Ähnlich erhellend ist ein Memorandum von Lord Balfour im September 1919, das erst dreißig Jahre später veröffentlicht wurde. Darin heißt es, der Widerspruch zwischen der Satzung des Völkerbundes und der Politik der Alliierten sei noch offensichtlicher im Falle der „unabhängigen Nation“ Palästina als im Falle der „unabhängigen Nation“ Syrien. Denn in Palästina stehe nicht einmal zur Diskussion, die gegenwärtigen Einwohner des Landes nach ihren eigenen Vorstellungen auch nur zu fragen. Die vier Großmächte stünden auf der Seite des Zionismus. Denn der gründe sich auf uralte Traditionen, auf Bedürfnisse in der Gegenwart und auf Hoffnungen für die Zukunft. Diese aber seien von weitaus größerem Gewicht als die Wünsche und Vorurteile der 700 000 Araber, die dieses alte Land bewohnten.[15]

Als einen klassischen Kolonialkonflikt, der eine militärische Überlegenheit der jüdischen Seite erfordere, und zwar für einen Staat im gesamten britischen Mandatsgebiet einschließlich Transjordanien, hat dann Wladimir Jabotinsky, der Präsident der Revisionisten – eine Art Vorläufer des Likud –, den Konflikt 1923 in seinem berühmten Beitrag „The Iron Wall“ gedeutet. Es sei unmöglich, so schrieb er, die freiwillige Zustimmung der Araber dazu zu bekommen, „Palästina“ in ein Land mit einer jüdischen Mehrheit umzuwandeln. Das zeige schon die Geschichte. Es gebe kein einziges Beispiel für eine Kolonisation, der sich die einheimische Bevölkerung freiwillig unterworfen habe. Diese hätte, war sie nun zivilisiert oder unzivilisiert, den Kolonisatoren immer heftigen Widerstand geleistet.[16]

Die King/Crane-Kommission, die Wilson gegen Ende des Ersten Weltkrieges zur Prüfung der Mandatsfrage eingesetzt hatte, formulierte schon 1919 ähnliche Bedenken. Die damals in Palästina lebende Bevölkerung mit einer unbegrenzten jüdischen Einwanderung zu konfrontieren, verletze nicht nur deren Rechte, sondern auch die Prinzipien, die der amerikanische Präsident im Januar 1918 in seinem 14-Punkte-Programm vorgestellt hatte, das unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Schaffung eines Völkerbundes zur Verhinderung weiterer Kriege vorsah. Keiner der im Mandatsgebiet konsultierten britischen Offiziere sei der Meinung gewesen, die zionistische Programmatik lasse sich ohne Waffengewalt durchsetzen. Der Plan, Palästina in ein jüdisches Commonwealth zu verwandeln, solle daher aufgegeben werden.

Der Bericht der Kommission blieb ohne Folgen; er wurde überhaupt erst Jahre nach der Friedenskonferenz veröffentlicht.[17] Und er war nicht die letzte Mahnung. Noch 1947, also zwei Jahre nach dem Ende der Shoah, warnte ein Mitarbeiter aus dem Stab der Abteilung für Nahost-Angelegenheiten im US State Department zur Frage einer Teilung Palästinas in einem Memorandum: „Die Unterstützung der USA für die Teilung Palästinas [...] kann nur auf Grundlage einer arabischen und jüdischen Zustimmung gerechtfertigt werden. Andernfalls würden wir gegen das Prinzip der Selbstbestimmung verstoßen, das in die Atlantik-Charta, die Deklaration der Vereinten Nationen und die Charta der Vereinten Nationen eingeschrieben wurde – ein Prinzip, das tief in unserer Außenpolitik verankert ist. Selbst ein Beschluss der Vereinten Nationen zugunsten einer Teilung wäre ohne eine solche Zustimmung eine Verhöhnung und ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen selbst.[18]

So war der entscheidende Grund für den ersten arabisch-israelischen Krieg (1948-1949) letztlich – und wie oft vorhergesagt – die Weigerung, die arabische Seite über das Schicksal Palästinas mitbestimmen zu lassen. Ob die arabischen Truppen eine reelle Chance hatten, das gerade entstandene Israel wieder zu beseitigen und was das konkret bedeutet hätte, wird kontrovers diskutiert. Fest steht: Ihre Kriegsziele waren komplexer, als es der jüdischen Seite erscheinen musste, die gute Gründe hatte anzunehmen, dass es um ihre Existenz ging; vor allem aber waren sie uneinheitlich und widersprüchlich.[19] Eine souveräne palästinensische Staatlichkeit gehörte übrigens nicht dazu.

Auch die israelische Zustimmung zur Teilung Palästinas zwischen Juden und Arabern war keineswegs ohne Vorbehalt erfolgt. Menachem Begin, später von 1977 bis 1983 israelischer Ministerpräsident, war beispielsweise strikt dagegen. Ben-Gurion hingegen überzeugte seine Anhänger von der Teilung mit der Aussicht, das Israel zugesprochene Territorium bei sich bietender Gelegenheit militärisch zu erweitern.[20] Und eine solche Gelegenheit zur Gebietserweiterung bot der erste arabisch-israelische Krieg. Dass ihn die arabische Seite verlor, kann man begrüßen; aber es sollte auch Raum bleiben für die tragischen Dimensionen, die beide Seiten in die Konfrontation geführt haben: Die Rettung der jüdischen Immigranten geriet zur leidvollen Erfahrung für den größten Teil der alteingesessenen Araber, die ihre Heimat und ihren Besitz verloren und deren Dörfer völlig zerstört wurden – eine Katastrophe, die immer noch nicht zu einem erträglichen Abschluss gekommen ist.[21] (Was freilich auch damit zusammenhängt, dass die meisten arabischen Staaten die palästinensischen Flüchtlinge nicht integrieren.)

Die Siedlungstätigkeit als Überlebens- und Verdrängungskolonialismus

Sowohl im historischen Rückblick als auch in seiner Selbstwahrnehmung und Praxis erweist sich der Zionismus somit als Projekt eines Siedlungskolonialismus. Diese Aussage bedarf indes mehrfacher Qualifizierung. Denn den Einwanderern ging es nicht um die Ausbeutung von Bodenschätzen oder indigenen Arbeitskräften, ganz im Gegenteil: Jüdische Landbesitzer, Kollektivgemeinschaften und andere Arbeitgeber waren gehalten, nur jüdische Arbeitssuchende unter Vertrag zu nehmen und sie über Marktniveau zu entlohnen. Land wurde zudem nicht einfach beschlagnahmt, sondern – zunächst – von arabischen Großgrundbesitzern gekauft, dann dem Markt entzogen, um es zu vergesellschaften.

Die Besiedlung Palästinas, dem Selbstverständnis nach ein lebensrettendes nationales Projekt, war freilich zugleich ein Verdrängungskolonialismus. Der Politikwissenschaftler Meron Benvenisti nennt solche kolonisierenden Gesellschaften „supplanting societies“.[22] Immerhin war der Zionismus – bei aller Gewalt, die die jüdische Seite zu verantworten hat – im Gegensatz zu etlichen anderen „Verdrängungsgesellschaften“ nie genozidal.

Einige kolonialistische Rahmenbedingungen blieben über die Staatsgründung 1948 hinaus bestehen. Zwar war Großbritannien umgeschwenkt und hatte sich am Ende gegen einen jüdischen Staat in Palästina entschieden. An ihrer Stelle warben jedoch die USA in der UNO intensiv für das Teilungsvotum zugunsten eines Staates Israel. Die Vereinigten Staaten haben dann auch – neben der UdSSR – als erste diesen Staat anerkannt. Was Waffenlieferungen anging, zeigte sich Washington hingegen lange Zeit überaus zurückhaltend. Hier sprang Frankreich ein, was sich nicht ohne den Algerienkrieg und die Unterstützung der dortigen Befreiungsbewegung durch Ägypten erklären lässt; auch die israelische Nuklearrüstung profitierte von französischer Hilfestellung. Als Frankreich nach dem Sechstagekrieg von 1967 als Schutzmacht ausfiel, traten mehr und mehr die USA an seine Stelle; die Vereinigten Staaten gelten bis heute als der wirksamste und treueste Verbündete Israels. Ihre große Affinität zu Israel verdankt sich nicht nur der starken proisraelischen Lobby in den USA, sondern auch den Parallelen zur eigenen Siedlungsgeschichte und einer ähnlich wichtigen Rolle fundamentalistischer Religion in der politischen Kultur. Von besonderer Bedeutung sind hier die Evangelikalen, heute eine zentrale Klientel der Republikanischen Partei. Sie sehen das „Heilige Land“ als Vorposten im Nahen und Mittleren Osten gegen den Islam. Ohne die direkte und indirekte Unterstützung oder zumindest Tolerierung durch die USA wäre die Kontinuität der israelischen Siedlungspolitik nicht gesichert.[23]

Für die Entstehung Israels war freilich auch ein „antikoloniales“ Element von Bedeutung, nämlich die entschiedene Befürwortung des UN-Teilungsplans und der israelischen Staatsgründung durch die Sowjetunion – ein „window of opportunity“ zur Überraschung aller Beteiligten, das sich mit Beginn des Kalten Krieges wieder schließen sollte. Vor allem die Waffenlieferungen der Tschechoslowakei, die ohne die sowjetische Zustimmung wahrscheinlich nicht erfolgt wären, waren für das gerade gegründete Israel von elementarer Bedeutung. Die offizielle Begründung für die sowjetische Haltung war der Holocaust, aber ausschlaggebend dürften vorübergehende machtpolitische Überlegungen gewesen sein. Durch die gewaltsame Wendung der jüdischen Einwanderer gegen die araberfreundliche Endphase der britischen Mandatspolitik war der Zionismus für die UdSSR zumindest für eine kurze Zeit von einem Instrument des Imperialismus zu einem Instrument gegen den Imperialismus geworden.

Schließlich ist, wie schon angedeutet, auf den Holocaust zu verweisen, neben den nationalistischen und kolonialistischen Faktoren der dritte zentrale Hintergrund für die Entstehungs- und Verlaufsgeschichte des Nahostkonflikts. Die einzigartige Katastrophe der Shoah führte nicht nur innerhalb des Judentums, sondern weltweit zu einem fast völligen Umschwung zugunsten des zionistischen Staatsgründungsprojekts. Die Mehrheit der UNO-Mitglieder stimmte gegen die Option eines einheitlichen arabischen Staates mit einer jüdischen Minderheit – eine Option, die auch zur Diskussion stand. Schon mit dem Teilungsplan der Mehrheit kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, und noch vor dem Angriff der arabischen Militärs und Freischärler im Mai 1948 waren rund 300 000 Araber geflohen oder vertrieben worden.[24] Der Staat Israel hat sich in mehreren Kriegen behauptet, aber auch zusätzliche Legitimität gewonnen durch die Aufnahme nicht nur von Überlebenden des Holocaust, die Schwierigkeiten gehabt hätten, woanders unterzukommen, sondern auch von jüdischen Auswanderern und Vertriebenen aus arabischen Ländern. Den Konflikt mit den Palästinensern hat Israel freilich bis heute nicht befrieden können.

Weiter siedeln oder eine gerechte Zwischenlösung?

Nach dem Sechstagekrieg kam es bekanntlich erneut zu Landnahme durch Eroberung und zu Siedlungsprozessen mit Verdrängungstendenzen gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung, verbunden mit massiver struktureller Diskriminierung und teilweise gewalttätiger Repression. Wie die jüngsten Auseinandersetzungen um die Zwangsräumungen im Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah gezeigt haben – eine zentrale Ursache für den Gaza-Krieg im Jahr 2021 –, liegt dem Palästinakonflikt nach wie vor nicht zuletzt der Streit um ein knappes Gut zugrunde, das sich nicht beliebig vermehren lässt: Boden und Behausungen. Und in diesem Punkt ist Israel weiterhin der Treiber der Konfliktdynamik, befördert durch die neozionistische Verbindung zwischen religiösem Fundamentalismus und Nationalismus. Nicht nur die Siedlerparteien, sondern ein breites Spektrum der israelischen Politik ist daran beteiligt, auf verschiedenen Wegen Land für Siedlungszwecke verfügbar zu machen. Die Besatzungspolitik wird in der Öffentlichkeit vielfach nicht mehr als solche wahrgenommen; sie gilt weithin als legitime Fortsetzung des siedlungskolonialistischen Staatsbildungsprozesses.[25]

Wie aber ließe sich, als Zwischenfazit, der Widerspruch zwischen konkurrierenden Anforderungen auflösen, die sich einerseits aus einer antikolonialistischen Haltung, andererseits aus der Verfolgung der europäischen Juden und dem Holocaust ergeben? Der Historiker und „Blätter“-Mitherausgeber Dan Diner hat dazu schon vor längerem eine der besten Analysen verfasst.[26] Diner kommt zu dem wenig beruhigenden Befund, dass wir es im Nahen Osten mit einem nationalen Konflikt und einem nationalen Konflikt kolonialen Charakters zu tun haben, der konventionelle Lösungsvorstellungen ausschließt. Der nationale Konflikt ließe sich möglicherweise durch eine Teilung des Landes lösen. Die kolonialen Anteile des Konflikts unterliefen jedoch alle Vorstellungen von kompromissfähiger Territorialität. Die tiefe Schuld des Westens als säkularer Christenheit gegenüber den Juden, vor allem wegen der Shoah, münde darin, dass ihnen so etwas wie eine nationale Heimstätte prinzipiell nicht versagt werden könne. Dabei handele es sich weniger um ein universell einklagbares Recht als um ein Privileg, das aus einer besonderen, ja exzeptionellen Lage erwachsen sei. Jedoch würde eine einseitige Inkorporation weiterer arabischer Gebiete über die Waffenstillstandslinien von 1949 hinaus, so Diner, von einer solchen, auf der jüdischen Erfahrung der Vernichtung beruhenden Rechtfertigung des Gemeinwesens nicht mehr gedeckt.

Für Kritik und Anregungen danken wir Muriel Asseburg.

 

[1] Vgl. dazu Gert Krell und Micha Brumlik, Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards: Israel und der Nahostkonflikt – über eine neue, erschreckend einseitige Studie zum Thema Antisemitismus, in: „Frankfurter Rundschau“, 8.12.2021.

[2] Vgl. dazu Eliezer Ben-Rafael u.a. (Hg.), Handbook of Israel: Major Debates, Bd. 2, Oldenburg 2016 (insb. Kapitel X) sowie Micha Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger, Hamburg 2021.

[3] Klaus Holz und Thomas Haury, Antisemitismus gegen Israel, Hamburg 2021; mit reichhaltigem Material zu allen historischen und aktuellen Schwerpunkten.

[4] Vgl. etwa Shimon Stein und Moshe Zimmermann, Wann wird Israelkritik zum Antisemitismus? in: „Der Tagesspiegel“, 10.11.2019.

[5] Kenneth Stern, I drafted the definition of anti-Semitism: Rightwing Jews are weaponizing it, www.theguardian.com, 13.12.2019.

[6] Zit. nach Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, London und New York 2000, S. 3.

[7] Referiert bei Sari Nusseibeh, Es war einmal ein Land, München 2008, S. 27.

[8] Zit. nach Tom Segev, Es war einmal ein Palästina: Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005, S. 129.

[9] Referiert nach Benny Morris, Righteous Victims: A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881-2001, New York 2001, S. 136.

[10] Ebd., S. 138-144 und 168-169; einschlägige Zitate auch bei Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus, S. 116. Flapsige Hinweise in dieser Richtung gab es schon bei Theodor Herzl; der Teilungsplan der britischen Peel-Kommission von 1937 brachte eine Umsiedlung von rund 225 000 Arabern ins Gespräch (vgl. Holz/Haury, Antisemitismus, S. 39 und 79).

[11] Vgl. Chairiyya Qasimiyya, Palästina in der Politik der arabischen Staaten 1918-1948, in: Helmut Mejcher (Hg.), Die Palästina-Frage 1917-1948, Paderborn 21993, S. 123-188.

[12] So der Titel eines Buches von Aaron David Miller aus dem Jahr 2008 über die Bemühungen der USA um Frieden im Nahen Osten.

[13] So wurde die „Jewish Agency” Teil des Mandats, sie hatte quasi offiziellen diplomatischen Status. Für die arabische Seite gab es nichts Vergleichbares. Vgl. dazu ausführlich Rashid Khalidi, The Iron Cage: The Story of the Palestinian Struggle for Statehood, Boston 2006.

[14]Zit. nach Lawrence Davidson, America’s Palestine: Popular and Official Perceptions from Balfour to Israeli Statehood, Gainesville/Tallahassee/Tampa 2001, S. 21.

[15] Hier referiert nach Rashid Khalidi, The Hundred Years‘ War On Palestine, London 2020, S. 38.

[16] Vladimir Jabotinsky, The Iron Wall, „The Jewish Herald“ vom 4. November 1923 (www.jewishvirtuallibrary. org/quot-the-iron-wall-quot).

[17] Walter Laqueur und Dan Shueftan (Hg.), The Israel-Arab Reader: A Documentary History of the Middle East Conflict, New York 82016, S. 23-25.

[18] Zit. nach Davidson, America’s Palestine, S. 182, Hervorhebung d.A. Das Memo durfte nicht veröffentlicht werden und verschwand in der Schublade.

[19] Benny Morris, 1948: A History of the First Arab-Israeli War, New Haven und London 2008, S. 396-406. Zum Mythos von der „Invasion arabischer Armeen“ vgl. Khalidi, The Iron Cage, S. XXXIII.

[20] Shlaim, The Iron Wall, S. 25, und Nusseibeh, Es war einmal ein Land, S. 46.

[21] Dass es Vertreibungen gegeben hat, ist heute nicht mehr umstritten. Kontrovers bleiben deren Umfang und die Frage einer gezielten Planung. Dazu werden neue auf Archivmaterial gestützte Untersuchungen erwartet.

[22] Meron Benvenisti, The Binational Dilemma, in: Ben-Rafael u.a., Handbook of Israel, S. 1191-1192.

[23] Vgl. dazu Ian S. Lustick, Paradigm Lost: From Two-State Solution to One-State Reality, Philadelphia 2019, Kap. 3: The Lobby and the Cocoon; sowie Holz und Haury, Antisemitismus, S. 362.

[24] Morris, 1948, S. 63-65.

[25] Vgl. dazu mit vielen Details Gershon Shafir, A Half Century of Occupation: Israel, Palestine, and the World’s Most Intractable Conflict, Oakland 2017. Zum dominierenden Narrativ in Israel vgl. Tamir Magal, Daniel Bar-Tal und Eran Halperin, Why Is It So Difficult to Resolve the Israeli-Palestinian Conflict by Israeli Jews? A Socio-Psychological Approach, in: Ben-Rafael u.a., Handbook of Israel, S. 1211-1232.

[26] Dan Diner, Der Sarkophag zeigt Risse: Über Israel, Palästina und die Frage eines neuen Antisemitismus, in: Christian Heilbronn u.a. (Hg.), Neuer Antisemitismus: Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, S. 459-488.

 

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