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auch in der ukraine gab es zumindest anfangs zivilen Widerstand. Das Archivbild zeigt Protest in Cherson
Foto: Olexandr Chornyi

Soziale Verteidigung

Kann der Konflikt mit zivilen Mitteln gelöst werden?

von Christine Schweitzer

Das Leid der Menschen in der Ukraine, aber auch das der russischen Soldaten und ihrer Angehörigen, die von einer skrupellosen Führung mit lächerlichen Begründungen in diesen Krieg geschickt wurden, ist unermesslich. Im Grunde ist aber das Tragische und Unerträgliche, dass für die Menschen in der Ukraine scheinbar die einzige Alternative zu militärischer Verteidigung in der fast unannehmbaren Demütigung bestanden hätte, sich den mit Gewalt durchgesetzten Ansprüchen der russischen Angreifer zu beugen. Doch hätte es wirklich keinen Ausweg aus diesem fürchterlichen Dilemma gegeben?

Angesichts der Gefahr eines Atomkriegs, wie sie auch heute wieder wächst, haben nach dem Zweiten Weltkrieg Militärs (unter anderem der britische Commander Stephen King-Hall) und Friedensforscher:innen (zum Beispiel in Deutschland Theodor Ebert) angefangen, sich Gedanken darüber zu machen, ob Krieg noch führbar beziehungsweise seine Vorbereitung verantwortbar ist. Sie fanden eine dritte Alternative zu Krieg oder Kapitulation. Es ist die des gewaltfreien Widerstandes, der Sozialen Verteidigung. Die Grundidee der Sozialen Verteidigung: Es werden nicht die Grenzen, das Territorium verteidigt. Stattdessen schützt die Gesellschaft in erster Linie ihre (zivilen) Institutionen und ihre Identität und Lebensweise.
Auch Deutschland hat schon seine Erfahrungen gemacht

Ein Angreifer (oder Putschist), der sein politisches System einem Land aufzwingen will, braucht die Kollaboration der Bevölkerung. Wenn Menschen sich weigern, den Befehlen der Bewaffneten Folge zu leisten, sind diese letztlich hilflos. Sie können nicht mit der Waffe hinter jeder Bürgerin und jedem Bürger stehen. Das mussten schon die Nazis in Norwegen erfahren, als ihr Versuch, das Schulsystem zu nazifizieren, an dem entschlossenen Widerstand der norwegischen Lehrer:innen scheiterte.

Das Konzept der Sozialen Verteidigung ist weniger utopisch, als es klingen mag. Eine vergleichende statistische Untersuchung von gewaltsamem und gewaltfreiem Widerstand zwischen 1905 und 2006 hat gezeigt, dass gewaltfreier Widerstand zweimal so oft zum Erfolg führte als gewaltsamer. Auch in Deutschland haben wir schon diese Erfahrung gemacht: Beim Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920, im „Ruhrkampf“ 1923, als das Ruhrgebiet besetzt wurde, um Reparationen einzuziehen und last not least bei der gewaltfreien Revolution in der DDR 1989.

Soziale Verteidigung wäre nicht ungefährlich für die Verteidigenden und es würde gewiss Opfer geben. Aber dem Angreifer würde der Grund genommen, schwere Waffen einzusetzen. Die beiderseitig gewaltsame Kriegsführung verursacht unendlich viel mehr Tod, Leid, Zerstörung und Hass, als es bei Sozialer Verteidigung je der Fall wäre. Dazu kommt: Wenn mit gewaltfreiem Widerstand konfrontiert, wenden sich oft die Sicherheitskräfte schließlich gegen ihre Regierung und verweigern die Befehle. Das kann heute in Belarus beobachtet werden: Dem Aufruf einer Menschenrechtsorganisation, „Unser Haus“, sich nicht für Putins Krieg einziehen zu lassen, sind bereits 20 000 Rekruten und Soldaten gefolgt. Ebenso entziehen sich in Russland (und im Übrigen ebenso in der Ukraine) Zehntausende Männer dem Kriegsdienst.

Auch in der Ukraine gab es zumindest anfangs zivilen Widerstand, zum Beispiel in der Stadt Cherson, der – wie man inzwischen weiß – wohl auch vorbereitet war. Dort gilt es jetzt, Wege zu finden, diesen Krieg möglichst schnell durch Verhandlungen zu beenden.

Soziale Verteidigung ist aber auch für uns eine Alternative – zu Aufrüstung und dem drohenden neuen Kalten Krieg. Militärsysteme sind selbst dann, wenn sie nicht in Marsch gesetzt werden, stets Mittel zum Drohen und Erpressen, zum Durchsetzen von Interessen auf Kosten anderer. Wenn wir uns hier in Deutschland auf die Vorbereitung von Sozialer Verteidigung einließen, würde das letztlich bedeuten, internationale Beziehungen auf eine neue Basis zu stellen: Die Basis gerechter Beziehungen, in denen Menschen- und Völkerrecht, nicht die Gewalt des Stärkeren regieren.


Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung. Berichte über zivilen Widerstand in der Ukraine unter www.soziale-verteidigung.de

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